MÜNCHNER "WEG DER ERINNERUNG"

Gedächtnisort: Das Alte Rathaus

Synagoge Ohel Jakob am Morgen nach der Reichskristallnacht.          Quelle: Yad Vashem
Synagoge Ohel Jakob am Morgen nach der Reichskristallnacht. Quelle: Yad Vashem

Am 9. November 1938 rief im Saal des Alten Rathauses der Propagandaminister der nationalsozialistischen Regierung, Joseph Goebbels, zum Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung auf. Dieses Haus war der Ausgangspunkt der inszenierten „Kristallnacht“, die wiederum die Initialzündung für die Verschärfung der nationalsozialistischen Maßnahmen gegen die Juden bis hin zum Mord war. Unter Hinweis auf den Anschlag des Herschel Grynszpan, der auf die Nacht- und Nebel-Aktion der Abschiebung seiner Eltern nach Polen mit Schüssen auf den Legationssekretär vom Rath in Paris am 7. November hatte aufmerksam machen wollen, rief Goebbels die anwesende Parteiprominenz zur Vergeltung dieser Tat auf.

 

Das Jahr 1938 hatte bereits zwei große nationalsozialistische „Erfolge“ vorzuweisen: Den „Anschluss“ Österreichs im Frühjahr und die Unterzeichnung des „Münchner Abkommens“ über die erzwungene Abtretung der sudentendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich durch die Tschechoslowakische Republik im Herbst. Aufgrund dessen waren auch österreichische und sudentendeutsche Delegationen der dortigen Nationalsozialisten bei den NS-Feiern anwesend. Gesamtverantwortlich für die Münchner Festlichkeiten war Gauleiter Adolf Wagner, Vorbereitung und Durchführung lag bei Gaupropagandaleiter Karl Wenzel, für den „Kameradschaftsabend“ bei Christian Weber, SS-Brigadeführer und Leiter des Amtes „8./9. November 1923“, für den Aufmarsch bei SA-Obergruppenführer Wilhelm Helfer.

 

Am 8. November war in einem Kommentar der Münchner Neuesten Nachrichten mit Bezug zum Pariser Anschlag auf Ernst vom Rath zu lesen: „Der Mordanschlag ist eine so ungeheuerliche Herausforderung, die Angabe, das Attentat sollte die jüdische Rasse rächen, eine so folgenschwere Erklärung, dass wir weder Anschlag noch Erklärung ohne Folgerungen werden hinnehmen können. Wenn die internationale Judenschaft glaubt, mit Meuchelmorden das Judenproblem in Deutschland lösen zu können, dann nimmt Deutschland diese Herausforderung an und wird nicht zögern, sie so zu beantworten, wie sie Elementen gegenüber nötig ist, die den Mord aus dem Hinterhalt als politische Waffe betrachten.“ Obgleich vom Rath noch lebte, lieferte dieser Kommentar die spätere Rechtfertigung des Pogroms schon im Voraus. „Es ist klar, dass das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird“ lautete die noch deutlichere Ansage in einem Artikel im Völkischen Beobachter vom gleichen Tag.

 

Die mit blutroten, Opferbereitschaft anmahnenden Fahnen, und mit feierlicher Tragik gestalteten Veranstaltungen dieser Tage taten für die Stimmung ein Übriges. An diesem Tag war in München jegliches Amüsement, wie Tanzveranstaltungen, in Theatern, Gaststätten und Bühnen verboten worden; nur ernste Darbietungen waren erlaubt. Hitler sprach im Großen Saal des Bürgerbräukellers auf dem „Abend der Erinnerung und der Kameradschaft“ zu den „Blutordensträgern“, den Angehörigen der sechzehn beim Putsch getöteten Nationalsozialisten und zu seinen persönlichen Gästen, den NSDAP-Reichsleitern und dem stellvertretenden Gauleiter von München-Oberbayern. Im Altmünchner Saal war weitere NSDAP-Prominenz anwesend. Adolf Hitler vermied in seiner Rede, auf den Anschlag in Paris einzugehen. Eventuell rechnete er fest mit dem Tod Ernst vom Raths und wollte die Schockwirkung einer Todesnachricht am nächsten Tag als Auslöser für das geplante Pogrom nutzen. Um halb elf Uhr nachts marschierten dann die Standarten durch das Siegestor zum Odeonsplatz und rahmten in Stellung an den Seiten die dortige feierliche Niederlegung der „Blutzeugen“-Kränze ein.

 

Am 9. November herrschte in München „Arbeitsruhe“. Um 11.45 Uhr startete am Bürgerbräukeller der große Umzug bis zum Odeonsplatz. Mit Flaggen in „Novemberrot“ wurde an das vergossene Blut der Putschisten erinnert. In der Briennerstraße war die Beflaggung mit Hakenkreuzfahnen leuchtend rot, was den Sieg der NS-Bewegung symbolisieren sollte. Den Umzug führte Julius Streicher an, der Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“; ihm folgten die „Blutfahne“ und die „Führergruppe“. Wieder wurden am „Mahnmal“ an der Feldherrnhalle Kränze niedergelegt.

 

Für den Abend hatte Adolf Wagner zu einem „Geselligen Zusammensein der Führerschaft der NSDAP“ im Saal des Alten Rathauses geladen. Alles von Rang und Namen der NSDAP-Hierarchie war im Saal; das Dokument der damaligen Sitzordnung ist erhalten geblieben. Heinrich Himmler, „Reichsführer SS“ fehlte zeitweise; Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei war zugegen. Hitler hatte angeblich um 21 Uhr die Todesnachricht Ernst vom Raths aus Paris erhalten. Nachdem er mit Goebbels im Flüsterton eindringlich gesprochen hatte, erhob er sich, verließ die Versammlung und begab sich in seine Privatwohnung am Prinzregentenplatz.

 

Eine Stunde später ergriff Goebbels das Wort und erging sich in Verschwörungstheorien gegen die Juden insgesamt, die am Tod Ernst vom Raths schuld seien. Höhepunkt der Rede war die Information, dass im Reich bereits Aktionen gegen die Juden unternommen worden seien, der „Volkszorn“ also zu diesen Mitteln greife: „Die Partei hat solche Aktionen zwar nicht zu organisieren, aber sie auch dort, wo sie spontan entstehen, nicht zu verhindern.“ Alle verstanden es so: Man solle nach außen hin nicht als Urheber gelten, doch in Wirklichkeit alles organisieren und durchführen. Die Goebbels-Rede war der Schlusspunkt des Kameradschaftsabends. Anschließend erteilten die NSDAP- und SA-Führer von ihren Unterkünften aus den Gauleitungen, den Gaupropagandaleitern und den SA-Einheiten telefonische Weisungen, die Aktionen zu leiten.

 

An einigen Orten war es an den zwei Tagen zuvor schon zu Ausschreitungen gekommen. Insofern war die Stimmung bereits aufgeheizt, wurde jetzt noch systematisch verstärkt und die Ausschreitungen wurden straffer organisiert. Obwohl noch in der Nacht vom 9. auf den 10. November die Weisung erging, die SS solle sich heraushalten, was sogar in einem Fernschreiben an die Staatspolizeileitstellen noch einmal betont wurde, hatte sie mancherorts am Terror gegen die jüdische Bevölkerung schon regen Anteil gehabt. Die Fernschreiben Heydrichs beispielsweise sind dokumentiert und enthalten klare Aussagen, wie mit dem Anzünden von Synagogen, dem Zerstören der Geschäfte zu verfahren sei. „Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen“, wurde angewiesen, was im Klartext hieß, jüdischen Lebens oder Eigentums wohl; Juden waren somit „vogelfrei“.

 

 

Die nun reichsweit systematisch durchgeführten Aktionen sollten vielen jüdischen Menschen das Leben kosten. Synagogen wurden angezündet, Läden jüdischer Inhaber verwüstet, Menschen gejagt, misshandelt, beraubt und gefangen genommen und in die Konzentrationslager gebracht. In München wurden am 10. November 1938 rund 1.000 jüdische Münchner in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Über 30 von ihnen kamen nachweislich ums Leben. 22 jüdische Münchnerinnen und Münchner sahen in diesen Tagen im Suizid einen letzten verzweifelten Ausweg.

 

Was ist daran München-spezifisch?

Hitler hatte in den frühen 20er Jahren die „unverrückbare Festlegung des Grundsatzes“ verkündet, „dass Sitz der Bewegung München ist und immer bleibt“. Damit war der Grundstein zum späteren Titel der „Hauptstadt der Bewegung“ gelegt.

 

Die Bedeutung der Stadt München für den Ursprung und Aufstieg der NSDAP kann an Orten festgemacht werden, die sich in einem Umkreis von wenigen hundert Metern vom Alten Rathaus befinden, etwa das ehemalige Sterneckerbräu, das Gründungslokal der NSDAP; dort wurde im Februar 1920 die NSDAP gebildet, nachdem die Vorgängerpartei DAP ein Jahr existiert hatte. Nicht weit davon entfernt befindet sich die Ettstraße, wo der am Hitler-Ludendorff-Putsch beteiligte Polizeipräsident Ernst Pöhner im Sinne der jungen Splitterpartei wirkte und ab 1933 Heinrich Himmler. In unmittelbarer Nähe des Alten befindet sich das Neue Rathaus.

 

Am 9. März 1933 besetzte die SA das Münchner Neue Rathaus, eine Hakenkreuzfahne wurde gehisst; der wartenden Menschenmenge auf dem Marienplatz wurde die „Nationale Erhebung“ verkündet. Der glühende Nationalsozialist Karl Fiehler löste am 20. März 1933 den zurückgetretenen Karl Scharnagel von der Bayerischen Volkspartei als Oberbürgermeister ab. Karl Fiehler hatte die nationalsozialistische „Qualifikation“ des „alten Kämpfers“; er war am 9. November 1923 mit Adolf Hitler zur Feldherrnhalle marschiert.

 

Die Stadtverwaltung wurde an den strategischen Stellen mit NSDAP-Mitgliedern besetzt; der alte Beamtenapparat verhielt sich gegenüber der neuen Stadtspitze in den meisten Fällen vorauseilend gehorsam. Im Personalreferat saß Karl Tempel und konnte bereits im April 1933 mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ Entlassungen politisch missliebiger Beamter durchführen. Fiehler verfügte – ebenfalls bereits im April – dass jüdische Betriebe keine städtischen Aufträge mehr erhielten. Auch eine Liste jüdischer Gewerbetreibender als Vorstufe der späteren „Arisierung“, wie dies im beschönigenden NS-Behördenjargon hieß, wurde erstellt; beide Maßnahmen weit vor den entsprechenden Reglungen aus der Reichshauptstadt Berlin.

 

Am 22. Mai wurden die sozialdemokratischen Stadträte in „Schutzhaft“ genommen und in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Den Stadträten der Bayerischen Volkspartei wurde mitgeteilt, ihre Anwesenheit sei nicht mehr erwünscht, woraufhin sie fernblieben.

 

Am 25. Juli 1938 kam der in braune Uniformen gekleidete Stadtrat rein nationalsozialistischer Zusammensetzung zu einem Festakt ins Neue Rathaus. Einen gestaltenden und initiativen Stadtrat gab es von nun an nicht mehr; er war zum untergeordneten, Befehle entgegen nehmenden Organ verkommen.

 

1937 wurde das Haus der Deutschen Kunst eröffnet, ganz im Sinne der Hitlerschen Idee von einem München als „Hauptstadt der Deutschen Kunst“; gemeint war die neue „deutsche“ Kunst, die Kunst des „tausendjährigen Dritten Reiches“, die nur zeitgenössische „arteigene“ Werke in den Rang von Kunst überhaupt hob.

 

Erst im Jahr 2000 wurde im Alten Rathaus eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Ereignisse der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 enthüllt. Sie ist jedoch nicht frei zugänglich und auch nicht im öffentlichen Bewusstsein. Der Text lautet: Dieser Tanzsaal des Alten Rathauses war jahrhundertelang Schauplatz bürgerschaftlicher und stadtherrlicher Zusammenkünfte und Feste. Das nationalsozialistische Regime missbrauchte diesen Ort für die Planung antisemitischer Verbrechen. Im Verlauf einer Parteifeier am Abend des 9. November 1938 wurden die seit Tagen in vielen Städten des Reiches angezettelten antijüdischen Ausschreitungen hier zu einem deutschlandweiten Pogrom ausgeweitet. Als "Reichskristallnacht" war dieses Pogrom Vorstufe der Vernichtung des europäischen Judentums. 

 

Ilse Macek